Beginn und Ende der RunenritzungenWarum
der Brauch, Runen zu ritzen, in Mitteleuropa im 7. Jahrhundert ausstarb,
ist nicht geklärt. Dass die römische Kirche aktiv gegen den
Runengebrauch vorging, ist wenig wahrscheinlich. Weder ist ein solches
Verbot überliefert, noch scheinen christlicher Glaube und Runen
unverträglich gewesen zu sein. Einige mit Runengegenständen Bestattete
waren anscheinend schon Christen (Arlon, Kirchheim). Zudem arrangierte
sich die Kirche in England und Skandinavien recht zwanglos mit Runen als
Schrift. Dennoch dürfte die vom Frankenreich ausgehende
Christianisierung mit einem Wandel vieler Bräuche und einer latenten
Romanisierung (abzulesen z. B. am Lehnwortschatz) einhergegangen und
somit indirekt auch für das Erlöschen der Runenkultur verantwortlich
gewesen sein.
Da die Runen nur für einen recht kurzen Zeitraum in
Gebrauch waren (ca. 100 bis 150 Jahre) und die Inschriften oftmals eine
unsichere Hand verraten, war die Kenntnis vermutlich nie sehr
verbreitet oder fest verwurzelt. Viele Inschriften machen einen
ausgesprochen „privaten“ Eindruck. Etwas, das der skandinavischen
Runenmeisterkultur mit ihrer Traditionsbildung entsprach, existierte in
Mitteleuropa offenbar nicht. Statt dessen wechselte man, wohl unter dem
mittelbaren Einfluss der Kirchen und Klöster, auf die gebräuchlichere,
„internationalere“ und prestigereichere lateinische Schrift über.
Interessanter
ist die Frage, warum die Germanen Mitteleuropas überhaupt erst fast 400
Jahre, nachdem die ersten Runen in Skandinavien benutzt wurden, dieses
Schriftsystem übernahmen und sich nicht gleich (oder früher) der
lateinischen Schrift der benachbarten römischen Gebiete bedienten.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Runen
hier erstmals auftauchen, als die Gebiete in das Frankenreich
eingegliedert wurden (Alemannen 496/506/535, Thüringer 529/532) und
Bajuwaren (Mitte 6. Jh.). Eine These lautet, dass nach dem Fall des
Thüringerreichs 531 die ‚romanisch‘ geprägten Franken und Alemannen zu
direkten Nachbarn der Sachsen wurden und sich der Austausch zwischen
Nord und Süd intensivierte.
Zeitlich gilt dasselbe für die so
genannte „nordische“ Modewelle, mit der viele Elemente und Formen
(Fibelformen, Brakteaten, Verzierungen im Tierstil I und II) verstärkt
ab ca. 530 n. Chr. von Skandinavien nach Mitteleuropa gelangten bzw.
dort kopiert wurden und zu eigenen Formen anregten (kontinentaler
Tierstil II). Dass auch die Runen im Zuge dieser Modewelle nach Süden
gelangten, ist durchaus möglich; man bedenke auch die Formelwörter alu
und ota, auf den Hüfinger Brakteaten, die häufig in Skandinavien
vorkommen. Wie diese „nördlichen“ Elemente sich verbreiteten und weshalb
sie in Mitteleuropa so bereitwillig rezipiert wurden, ist noch nicht
hinreichend erklärt. Es könnte sich um intensivierte Handelsbeziehungen
handeln oder um engere soziale Kontakte (Heiratsbeziehungen,
Einwanderung, Wanderhandwerker oder Krieger, die sich neuen
Gefolgschaftsherren auf dem Festland anschlossen). Eine weitere These
lautet, dass diese „nordischen“ Elemente gezielt von einigen
germanischen Gruppen übernommen wurden, um sich eine eigene Identität zu
geben und diese nach außen (eventuell gegen die eher romanisierten
Gebiete/Gruppen und die Einflüsse aus dem Mittelmeerraum) zu
demonstrieren und sich dadurch abzugrenzen. Alles weist jedoch darauf
hin, dass der Gebrauch von Runen auf dem Boden des fränkischen Reichs
ein kurzlebiges und sekundäres Phänomen war.
Die Runen in SkandinavienIm
skandinavischen Norden, wohin die lateinische Schrift erst im
Mittelalter im Zuge der Christianisierung gelangte, nahm die Verwendung
der Runen dagegen bis zum hohen Mittelalter weiter zu, besonders bei
Grabinschriften oder zum Andenken an Familienangehörige auf
Runensteinen. Aus der Zeit des älteren Futharks hat die Inschrift auf
dem kleineren der Goldhörner von Gallehus große Berühmtheit erlangt.
Die
Inschriften im kürzeren Futhark beginnen etwa um 800; Beispiele dafür
sind die Steine von Helnæs und Flemløse auf Fünen. Ganz sicher datierbar
sind jedoch erst die zweifellos jüngeren Jellingsteine aus dem 10.
Jahrhundert. Sie sind in Schweden besonders zahlreich und reichen bis in
spätere Zeit hinauf, auf Gotland bis ins 16. Jahrhundert; einige
(beispielsweise der Karlevistein auf Öland und der Rökstein in
Östergötland) enthalten stabreimende Verse. Diese jüngeren Inschriften
aus der Wikingerzeit machen mit über 5000 den Hauptanteil aller
erhaltenen Runendenkmäler aus. Allein im schwedischen Uppland finden
sich 1200 Runensteine (in ganz Schweden ca. 2500). Die meisten Steine
tragen Inschriften der Art „(Name) errichtete für (Name)“, danach wird
der Verwandtschaftsgrad genannt. Manche Inschriften sind verschlüsselt.
Der Gebrauch der Runen zu literarischen Zwecken, also in Handschriften,
ist dagegen selten und wohl nur als eine gelehrte Spielerei zu
betrachten. Das umfangreichste Denkmal war der so genannte Codex runicus
mit dem schonischen Recht aus dem 14. Jahrhundert. Besonders lange
wurden Runen auf Kalenderstäben gebraucht.
Da Mythen, Sagen und
epische Lieder mündlich überliefert wurden und die isländischen
Prosa-Sagas von Anfang an eine (latein)schriftliche Textgattung waren,
spielten Runen als Medium literarischer Überlieferung kaum eine Rolle.
Aber nicht nur die große Verbreitung von Inschriften macht es
wahrscheinlich, dass seit der Wikingerzeit zumindest in der wohlhabenden
Oberschicht Skandinaviens ein recht großer Teil der Menschen Runen
lesen und schreiben konnte. Die große Mehrheit der einfachen
Landbewohner allerdings wird gewusst haben, was auf den markanten
Steinen stand und für wen sie errichtet waren, auch ohne selbst lesen
und schreiben zu können. Runen dienten oft auch profanen Zwecken. Dazu
zählen Besitzmarken, mit denen Handelswaren und anderes Eigentum
gekennzeichnet wurden, geschäftliche Mitteilungen, aber auch
Gelegenheitsinschriften in Form von kurzen privaten Botschaften, wie zum
Beispiel die Aufforderung „kysmik“ (küss mich), die im Oslo des 11.
Jahrhunderts auf einen Knochen geritzt wurde. Überliefert sind viele
Runenhölzer und Bleistreifen mit solchen Liebesbezeugungen, Gedichten
oder Handelsnotizen. Auch Verwünschungen blieben in Mode. In Byzanz
hinterließen mehrere nordische Reisende, möglicherweise Krieger der
kaiserlichen Warägergarde, Runengraffiti auf Galerien der Hagia Sophia.
Erst
im 16. Jahrhundert ging die Zeit der Runen in Skandinavien zu Ende.
Lediglich in der schwedischen Provinz Dalarna hielt sich der Gebrauch
von Runen noch bis ins 19. Jahrhundert. Als Erbe des langen
Nebeneinanders von lateinischer und runischer Schrift enthält das
isländische Alphabet bis heute ein Zeichen, das ursprünglich eine Rune
war: Þ (thorn) steht für den stimmlosen th-Laut (wie beispielsweise im
englischen Wort „thing“).
Beginn der wissenschaftlichen ErforschungDie
Runen gerieten nie in völlige Vergessenheit. Die wissenschaftliche
Befassung mit Runendenkmälern und der Runenschrift hielt sich das ganze
Mittelalter hindurch, bis zum Humanismus auf denselben Gleisen wie die
enzyklopädische und geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit
anderen Altertümern. Humanisten wie der Schweizer Melchior Goldast
fahnden in mittelalterlichen Manuskripten nach der
Geschichtsüberlieferung des eigenen ‚Stammes‘, wenn sie althochdeutsche
Texte ebenso abdrucken wie die klösterlichen Runentraktate des 9.
Jahrhunderts (s. Abb.). Im Norden konnte sich die Aufmerksamkeit auf die
inschriftlichen Denkmäler selbst richten. Seit dem 16. Jahrhundert
wurden gelehrte Sammlungen und Studien veröffentlicht, allerdings
erscheinen die Herleitungen der Schrift z. B. aus der Zeit der Sintflut
(Johan Magnus, 1554) oder von der hebräischen Schrift (Ole Worm, 1639)
doch eher kurios. Johan Göranssons Bautil von 1750 ist mit seinen
Abbildungen von 1200 schwedischen Runensteinen noch immer von
wissenschaftlicher Bedeutung, auch wenn er die These vertrat, die Runen
seien um 2000 v. Chr. von einem Bruder Magogs in den Norden gebracht
worden. Das verlorengegangene Goldhorn von Gallehus ist nur noch durch
Stiche des 18. Jahrhunderts fassbar.
Heute ist die Runenkunde
(Runologie) kein eigenständiges akademisches Fach, aber ein etabliertes
Forschungsgebiet im Berührungsfeld von vergleichender
Sprachwissenschaft, Nordistik, Geschichtswissenschaft und Archäologie.
Ideologische VereinnahmungenMitgliedsurkunde eines Turnvereins für den deutschnationalen Politiker Schönerer in Runenschrift
Als
scheinbar autochthone, rein germanische Leistung waren die Runen
anfällig dafür, für ideologische und politische Zwecke zur Zeit des
Nationalismus instrumentalisiert zu werden. Schon im 17. Jahrhundert
entwickelten Dänemark und Schweden einen ahistorischen Stolz auf „ihre“
Runen. Einer kulturkritischen Strömung am Ende des 19. und Beginn des
20. Jahrhunderts, die sich in neuheidnischen und antisemitischen
Tendenzen äußerte, kamen vorchristliche, „nordische“ Traditionen nur
gelegen. Die Vereinnahmung der völkischen „Sig-Rune“ (wie auch Teile der
nordischen Mythologie) durch die Hitlerjugend und die SS im Dritten
Reich und der Odalrune durch Neonazis (siehe Rechtsextreme Symbole und
Zeichen) ist dabei nur die bekannteste Form dieser ideologischen
Indienstnahme.
RunenesoterikGegen Ende
des 19. Jahrhunderts keimte in einigen esoterischen Kreisen Interesse
für die Runen auf. Es waren vor allem völkisch-mystisch gesinnte
Menschen, die die Runen in ihrem Sinne umdeuteten, sich neue
Runenalphabete ausdachten und verwendeten. Die völkische Bewegung
verwendete nie die historischen Runen, sondern frei erfundene
runenähnliche Zeichen. Der bedeutendste Impulsgeber war Guido von List
(1848–1919), ein österreichischer Romantiker mit recht exzentrischen
Ansichten. Er empfing den Großteil seines okkulten „Runenwissens“ nach
eigenem Bekunden in Form von Visionen und galt seinen Anhängern als eine
Art Prophet. Er gründete die Guido-von-List-Gesellschaft (auch als
Armanen-Orden bezeichnet), und das von List frei erfundene Futhark, das
sich nur lose auf das jüngere Futhark stützt, wurde daher auch
Armanen-Futhark genannt. List postulierte ein Urvolk mit eigener
Ursprache namens „Ariogermanen“. Er ging davon aus, dass dieses Volk,
diese reinblütige „Rasse“ von blonden, blauäugigen Menschen, schon seit
Urzeiten ein 18 Runen umfassendes Schriftsystem benutzt habe. Bis in die
siebziger Jahre des 20. Jahrhundert arbeitete die Runenesoterik fast
ausschließlich mit diesem Armanen-Futhark. Spätere Autoren stützten sich
auf dieses Futhark; so etwa Jörg Lanz von Liebenfels (ein ehemaliger
Zisterziensermönch), der Begründer der Ariosophie, einer Art
Rassenmystik, die auch einen der ideologischen Vorläufer für die
nationalsozialistische Rassenlehre bildete. Daneben war Lanz Herausgeber
der völkisch-rassistischen Ostara-Hefte (von denen man annimmt, dass
auch Adolf Hitler mit ihnen in seiner Wiener Zeit in Berührung gekommen
sei) und gründete den ONT (Ordo Novi Templi = Neutemplerorden). Daneben
sind noch zu nennen: Karl Maria Wiligut (besser bekannt als
Sturmbannführer Weisthor), der „Rasputin“ Himmlers, und Friedrich
Bernhard Marby, der Erfinder des Stödhur (auch als Runen-Gymnastik oder
Runen-Yoga bekannt), bei dem die auszuführenden Figuren jeweils Runen
symbolisieren und mit dem der „rassenbewusste nordische Mensch“ seinen
Geist und Körper veredeln sollte.
So entstanden weder die
Rassenlehre des Nationalsozialismus noch der Gebrauch der Armanen- und
Wiligut-Runen im Dritten Reich in einem luftleeren Raum, sondern
schöpften aus den völkischen Ideen, die vor dem Ersten Weltkrieg und vor
allem in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden.
Die
neuere Runenesoterik bezieht sich häufig auf die Arbeiten des
amerikanischen Runenmagiers Edred Thorsson (d.i. Stephen Flowers),
Vorsitzender der Rune-Gilde (Lit.: Edred Thorsson, 1987). Der in
Nordistik/Altgermanistik promovierte Flowers verwendete als Grundlage
auch wieder das ältere, 24 Runen umfassende Futhark anstelle des
Armanen-Futhark.
Generell zeichnen sich die Lehren der
Runenesoterik durch einen starken Eklektizismus aus. Esoterisch
arbeitende Runenmagier benutzen bei ihrer Beschäftigung mit Runenmagie
und Runenorakel zum einen vorgeblich „eigene“ Gedanken und Überlegungen,
greifen aber oft auch auf die wenigen schriftlichen Quellen des Hoch-
und vor allem Spätmittelalters zurück, bei denen etwas über die magische
Verwendung von Runen berichtet wird. Dazu gehören beispielsweise Odins
Zaubersprüche in der Edda und die altisländischen und altenglischen
Runengedichte. Dabei wird gern übersehen, dass diese späten
schriftlichen Überlieferungen aus einem bereits vollständig
christianisierten Umfeld stammen und entsprechend kaum reine
„germanisch-heidnische“ Vorstellungen wiedergeben. Allerdings legt die
Runenmagie keinen Wert auf historische Richtigkeit (sie ist schließlich
keine Wissenschaft), sondern auf den praktisch-subjektiven Zugang, der
jede (objektive) Fehlinterpretation verzeihlich macht. Meist wird in
Publikationen zum esoterischen und magischen Gebrauch der Runen betont,
dass der jeweilige Autor nur eine Hilfestellung und Ideen liefern
möchte, dass jedoch bei der Arbeit mit Runen jeder neue Adept aus sich
selbst heraus individuell die Runen und ihre Kraft „verstehen“ und den
Umgang mit ihnen lernen müsse – etwa durch Meditation, Trance u.ä.
Verwendung der Runen im Neuheidentum
Unter Asatru werden die Runen als Schrift und für die Runenmagie verwendet. Sie werden gelegentlich als Orakel-Lose verwendet.
Auszüge von Wikipedia (
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