Hamburg - Die Grippeimpf-Saison startet chaotisch: Länder haben mit
Lieferengpässen in der Versorgung zu kämpfen; ein Verkaufsstopp von
Hunderttausenden Impfdosen der Firma Novartis
[Sie müssen registriert oder eingeloggt sein, um das Bild sehen zu können.] wegen möglicher Sicherheitsrisiken sorgt für zusätzlichen Aufruhr.
Jetzt steht dem Schweizer Pharmakonzern erneut Ärger ins Haus: Der
italienische Gesundheitsminister Renato Balduzzi hat Novartis
vorgeworfen, zu spät über die Probleme bei der Produktion des
diesjährigen Grippeimpfstoffs informiert zu haben.
Demnach habe der Konzern bereits im Juli 2012 von möglichen Problemen
bei den Impfstoffen gewusst. In einem Gespräch mit dem Minister hätten
Vertreter des Konzerns eingeräumt, erst gar nicht und dann nur
unvollständig über Kontrollen ihrer Produktion informiert zu haben,
teilte das Ministerium am Donnerstagabend nach Angaben von tagesschau.de
mit. Wenn dies zutrifft, wäre es ein harter Vorwurf. Nach
Informationen von SPIEGEL ONLINE hat Novartis Vaccines erst im
September die Krankenkassen in Deutschland informiert, dass es zu
Lieferschwierigkeiten mit dem Grippeimpfstoff kommt - mithin zu spät,
als dass andere Pharmafirmen die Produktion hätten ankurbeln können. Am
6. September schickte Novartis demnach eine erste E-Mail an die AOK, in
der das Unternehmen "Verzögerungen von Begripal" einräumt und von
"insgesamt sehr herausfordernden Umständen" spricht. Einen Tag später
schickte Novartis eine neue E-Mail, in der es nun hieß: "Verfügbarkeit
von Begripal aller Voraussicht nach Anfang November."
Novartis beantwortete weder die Frage von SPIEGEL ONLINE, ob die
Vorwürfe des italienischen Gesundheitsministers zutreffend seien, noch
ob das Unternehmen die deutschen Krankenkassen tatsächlich erst im
September informiert hatte. Nur allgemein teilt der Konzern mit:
"Novartis hat seine Kunden individuell über die für sie jeweils gültigen
aktuellen Lieferdaten informiert." Zu Gesprächen mit den Krankenkassen
könne das Pharmaunternehmen "keine Auskunft geben, da diese der
Geheimhaltung unterliegen", teilt Novartis per E-Mail mit.
Scheibchenweise Informationen Auch der Bayerische Apothekerverband kritisiert die
Informationspolitik des Unternehmens. "Wir haben von Novartis nur
scheibchenweise erfahren, dass sich die Auslieferung verzögert", sagt
Sprecher Thomas Metz, "und wir haben auch keine genauen Gründe genannt
bekommen, warum nicht geliefert wird." AOK-Sprecher Udo Barske
appelliert an das "Management dieser Weltfirma, endlich
Handlungsfähigkeit zeigen. Es darf sich nicht weiter der Verantwortung
entziehen und weckducken."
Doch die Pharmaindustrie kontert - und macht die Krankenkassen für
den drohenden Lieferengpass verantwortlich. Sie versuchten mit
Ausschreibungen einige Cent zu sparen, doch dies gehe zu Lasten der
Versicherten, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der
Pharmazeutischen Industrie, Henning Fahrenkamp, am Freitag in Berlin.
Pharmaunternehmen, die bei Ausschreibungen nicht zum Zuge kämen,
müssten ihre Impfstoffproduktion drosseln. Den Kassen müsse klar sein,
dass es bei der Herstellung immer wieder zu Problemen kommen könne.
Darum seien Impfstoffe nicht für Ausschreibungen geeignet, sagte
Fahrenkamp.
[Sie müssen registriert oder eingeloggt sein, um das Bild sehen zu können.] Infografik: Die saisonale Grippe oder doch nur ein grippaler Infekt?
Die Produktion von Impfstoffen ist deutlich aufwendiger als von
normalen Pillen, es gibt nur wenige Firmen, die über entsprechende
Anlagen verfügen. Zu den größten Playern in diesem Geschäft gehört die
Firma Sanofi Pasteur MDS. Deren Geschäftsführer Andreas Sander räumt
gegenüber SPIEGEL ONLINE ein, dass seine Firma das Produktionsloch von
Novartis teilweise schon hätte auffangen können - wenn man früh genug
davon erfahren hätte. "Zwei bis drei Monate Vorlauf hätten wir
mindestens gebraucht", sagt Sander, dann hätte seine Firma auch aus
anderen Ländern Impfstoffe umleiten können. "Bei den Impfstoffen gilt
immer: je früher, desto besser." Statt aber die Kassen rechtzeitig
über ihre Lieferschwierigkeiten zu informieren, hatte Novartis als
Alternative seinen Impfstoff Optaflu angeboten. Dieser ist jedoch
umstritten, weil er nicht nach dem klassischen Verfahren in
Hühnereiern, sondern in speziell präparierten Tumorzellen von Hunden
gezüchtet wird. In den USA in Optaflu nicht zugelassen.
Umstrittenes Verfahren Nach Informationen des pharmakritischen Arzneitelegramms hatten
einige Mitglieder des Beraterkomitees der US-Zulassungsbehörde FDA
Bedenken wegen der potentiell krebsfördernden Wirkung der DNA aus diesen
Tierzellen geäußert. Deutsche Behörden halten Optaflu hingegen für
sicher. Das für die Zulassung zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI)
erklärt, Optaflu sei schon in 100.000 Fällen ohne Komplikationen
eingesetzt worden.
In der Pharmabranche gilt das Produktionsverfahren als revolutionär,
weil die Produktion mit Hilfe von tumorigenen Tierzellen deutlich
günstiger ist als die herkömmliche Grippe-Impfstoffproduktion auf Basis
von Hühnereiern. Ärzte stehen dem Verfahren aber skeptisch gegenüber.
Nach Angaben des Vorsitzenden des Hamburger Apothekervereins, Jörn
Graue, hätten die Ärzte der Hansestadt die entsprechenden
Optaflu-Impfdosen "komplett verweigert" und wieder an die Apotheken
zurückgeschickt.
Das PEI hatte am Donnerstag etwa 750.000 Dosen der Novartis-Grippeimpfstoffe Begripal und Fluad zurückgerufen,
nachdem Ausflockungen entdeckt worden waren. Behördenchef Klaus
Cichutek appelliert nun an die Ärzte, die noch zugelassenen
Novartis-Impfdosen genau anzuschauen. "Man kann mit bloßem Auge sehen,
ob Ausflockungen in dem Impfstoff enthalten sind." Bei der Rücknahme
des Novartis-Impfstoffes handle es sich aber um "eine reine
Vorsichtsmaßnahme", betonte Cichutek. "Wir haben keine Hinweise, dass
bei diesem Impfstoff bisher tatsächlich größere Nebenwirkungen
aufgetreten sind."